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Unverdient: Potentialis

Die Ökonomie des Potentialis

Gegen eine Gesellschaft, in der alles frei ist, hört man als typische Einwände, dass die menschlichen Bedürfnisse unendlich seien (also durch keine noch so hohe Produktion zu befriedigen), oder dass es unmöglich sei, alle Objekte des menschlichen Begehrens in genügender Anzahl jederzeit für jeden bereit zu halten.

Diese Argumentation übersieht, dass die konkrete Auswahl der Menschen aus einem freien Angebot relativ bescheiden ist. Viele Kaufentscheidungen kommen heute nicht durch den dringenden Wunsch nach dem aktuellen Konsum einer bestimmten Ware zustande, sondern durch die Angst, dass das gewünschte Produkt im richtigen Augenblick nicht zur Verfügung stehen könnte, also gerade dann, wenn man es braucht, nicht da ist. Es wird also auf Vorrat, zur Absicherung eines möglichen zukünftigen Konsumwunsches gekauft. Das deutet darauf hin, dass das entscheidende Kriterium des Konsums für Menschen gar nicht die konkrete Verfügbarkeit ist, also der Besitz, das Haben, das käuflich erwerben, sondern die Sicherheit, das, was man sich in einem bestimmten Augenblick wünscht, dann auch wirklich bekommen zu können. Nicht das in Besitz nehmen oder das Besitzen selber ist also das Ziel, sondern die sichere Option, die Gewissheit, etwas genau dann zur Verfügung zu haben, wenn man es möchte. So, wie jede Bank zusammenbrechen würde, wenn alle Kunden das eingelagerte Geld auf einmal zurückbekommen wollten, so wird gegen freie Güter und die Abschaffung des Geldes argumentiert. In Wirklichkeit ist es (zumindest jenseits der Warenform) aber garnicht nötig damit zurechnen, dass alle Menschen zu einer beliebigen Zeit alles denkbare haben wollen, sondern faktisch wird nur ein ganz kleiner Teil der vorhandenen Mittel abgerufen. Das Problem ist, dass dieser kleiner Teil nicht autoritär vom Staat oder irgend einer Instanz festgelegt werden darf, sondern tatsächlich zur Verfügung stehen muss, wenn die Menschen das wollen. Wenn es also gelänge, eine Haltung analog zum Verhalten gegenüber Banken zu organisieren, könnte dieses das scheinbare Dilemma unbegrenzter Bedürfnisse entschärfen. Es müsste nämlich durchaus viel weniger an Produkten bereitgehalten werden, als die Pessimisten befürchten. Es käme nur darauf an, dass jeder Mensch die Erfahrung hat, die empirisch nachvollziehbare Sicherheit, dass das, was er zu einem bestimmten Zeitpunkt konsumieren möchte (und sich nicht nur vorstellen könnte, es zu besitzen) auch wirklich bekommen kann. Es geht also um die Installation der realistischen Option, der Möglichkeitsform an Stelle der unendlichen prophylaktischen Lagerhaltung.

Wie lässt sich ein solches Gefühl der Option, also die Struktur des Potentialis statt der Bedienung des Realis zur dominanten Bewusstseinsform machen?

Es geht nicht durch Propaganda, Illusion oder Selbsttäuschung (im Sinne: einfach positiv denken!), sondern muss auf einer verlässlichen alltäglichen, selbstverständlichen Erfahrung beruhen, so wie die seit 1620 dominierende Alltagserfahrung, dass alles etwas kostet, dass das existenzielle Leben unerbittlich vom Geld abhängt.

Eine vorübergehende (hoffentlich) Lösung wäre die spirituelle Position. Sie wähnt sich in einem " Leben in der Fülle ", was übersetzt nichts anderes heißt, als dass sie genau an diese Option glaubt, vom Kosmos alles bekommen zu können, wenn sie es sich nur wünscht. Hier findet die genaue Analogie zur Ökonomie der Option statt: faktisch, hier und jetzt, gibt es fast nichts vom Kosmos, das konkrete Leben sieht eher asketisch aus, aber die Behauptung ist, dass ja potenziell alles zur Verfügung steht, dass der Kosmos für alles sorgt, überreichlich beschenkt, wenn es wirklich notwendig und gut ist. Hier wird also die neue Logik der Option oder des Potentialis in einer anderen Sprache vorweggenommen. Insofern leistet die spirituelle Position einen erheblichen Beitrag zur Veränderung der Welt, weil sie diese neue Logik in die Welt setzt, sie vorstellbar macht.

Diese neue Logik ist deshalb so wichtig einerseits und so schwierig zu vermitteln andererseits, weil die ökonomische Realität der Geldlogik und die entsprechende Ideologie des Neoliberalismus gerade eine andere Form von Handlungsfreiheit und Option verkörpert: in unserm System lässt sich Handlungsfreiheit typischerweise durch den Besitz - und zwar einen möglichst großen Besitz - gesellschaftlichen Reichtums erreichen. Je größer mein materieller Einflussbereich ist (je mehr ich also habe), umso größer ist nach der heutigen Logik meine Handlungsfreiheit. Die anderen sind die Konkurrenten, die diese Handlungsfreiheit potentiell einschränken, indem sie ihrerseits über Besitz verfügen, also das haben, was ich gerade deshalb nicht habe. Aus dieser Denkform resultiert eine Aporie: wenn meine Freiheit an meinem privaten Besitz hängt und der Besitz der anderen mich entsprechend ausschließt und dadurch meine Freiheit einschränkt, kann ich mir Gesellschaft nur als Einschränkung meiner eigenen Wünsche und Bedürfnisse vorstellen. Da ich praktisch und theoretisch nicht alles haben kann, weil dann die komplexe Arbeitsteilung der Gesellschaft überfordert würde, von der ich lebe, muss ich also ständig Kompromisse machen, mich ständig einschränken, um den labilen Zusammenhang nicht zu zerstören.

Nur dann, wenn wir die unerbittliche Logik des Geldes überwinden in Richtung einer Logik der Option, des Potentialis, also keine privaten Vorkehrungen, keine materielle Absicherung der Befriedigung unserer zukünftigen Bedürfnisse mehr nötig haben, kann sich dieses Dilemma lösen. Die Aufgabe einer zukünftigen Ökonomie wäre also, die Logik des Geldes, also des Habens, der berechnenden Beziehung usw. abzulösen durch die verlässliche Installation einer Struktur, die jedem einzelnen Menschen die erfahrbare Sicherheit gibt, dass alles, was er zu einem bestimmten Zeitpunkt haben möchte, auch vorhanden sein wird. Die Logik: ich muss alles - oder möglichst viel – in meinem Besitz haben, könnte ersetzt werden durch die Grundsicherheit: ich lebe in der potenziellen Fülle, es ist im Prinzip (gesellschaftlich) alles vorhanden; ich muss es nicht sehen, nicht überprüfen, nicht haben und mir nicht als Vorrat aneignen: ich kann mich einfach darauf verlassen, es rechtzeitig zu bekommen.

Es ist dies heute schon die Gewißheit der Bankkunden: sie gehen davon aus, dass sie ihr angelegtes Geld rechtzeitig zurückbekommen, auch wenn Sie wissen, dass keine Bank dieses Geld zu einem bestimmten Zeitpunkt für alle zur Verfügung hat. Beim Geld entschädigt die Erfahrungstatsache, dass es ja Zinsen bringt, solange man es nicht abhebt und man deshalb für die Haltung des Potentialis materiell belohnt wird. Eine ähnliche Opportunitäts- Berechnung müsste es auch beim nicht- monetären Reichtum, also den Konsumgütern geben. Diese besteht darin, dass jede Wahl eines Dinges (heute: „Kaufentscheidung“) eine Reduktion von Möglichkeiten bewirkt - nicht nur auf der Geldebene -. Jede Entscheidung für etwas hat Folgen, erfreuliche und unerfreuliche, schließt andere Optionen aus (auch jenseits der Geldlogik), verlangt Verwaltung, Berücksichtigung, muss eventuell entsorgt werden, nimmt Platz weg, legt Alltagsabläufe fest usw. Also auch die Wahl, das Abberufen konkreter Dingen hat Nachteile, die bewirken können, dass die Option nicht realisiert wird. Darauf beruht das ganze System. Die ständige Tatsache der Opportunitätsnachteile dürfte sich häufig so auswirken, dass der Potentialis nicht zum Realis wird, also freiwillig Option bleibt. Die Geldlogik regelt den Zugang durch die prinzipielle Knappheit des Geldes, das immer erst verdient werden muß, bevor es ausgegeben werden kann.

Wie läßt sich diese Wirkung jenseits der Geldlogik installieren? Sie darf ja nicht durch ein repressiveres System ersetzt werden, in dem womöglich wieder personale Herrschaft und Privilegien eine Rolle spielen. Die Lösung: durch faire Produktberatung: Von der Werbung sind wir anderes gewohnt. Wir wissen, dass hier systematisch übertrieben, verschwiegen, verführt, gelogen, schöngeredet usw. wird, weil Werbung ja das erklärte Ziel hat, Menschen etwas aufzuschwatzen, sie zum „Kauf“ zu veranlassen.

Wenn die Produkte und Dienste keine Waren mehr sind, also NICHT für den Verkauf geplant wurden, also niemand mehr daran verdient oder etwas davon hat, wenn die Produkte ihren Weg zum Verbraucher finden, dann kann Verbraucherberatung ehrlich, fair, individuell und wirklich unabhängig -also eigentlich Lebensberatung- sein. Die Option „Abraten“ ist dann genau so adäquat wie die individuell zugeschnittener Empfehlung. Im Internet kann man heute schon erstaunlich hilfreiche Kommentare und Beurteilungen von Konsumenten lesen, die ihre Erfahrungen mit einem bestimmten Produkt veröffentlichen. Aus den verschiedenen Berichten und Ansichten läßt sich oft schon gut - und verläßlicher als bei jedem „Verkaufs“gespräch - entnehmen, ob und für welche Bedürfnisse sich eine Anschaffung lohnt (nicht finanziell- heute noch-, sondern in Zukunft unter dem Aspekt der Bedienbarkeit, Haltbarkeit, Qualität usw). Wenn das primitive Motiv der reinen Verkäuflichkeit und des „günstigen Preises“ wegfällt, können erst die wirklich interessanten anderen Qualitäten, die für oder gegen die Anschaffung eines Produkts sprechen, differenziert zur Sprache kommen. Diese neue, verkaufsunabhängige Produktberatung bereitet sich also schon jetzt im Internet mit seiner riesigen bunt- gemischten user- Gemeinde vor.

Dass der "homo oeconomicus" ab einem gewissen Konsum- Standard nicht mehr in erster Linie kauft, um zu besitzen und zu verbrauchen, sondern sich vor allem Optionen verschaffen will, geht aus verschiedenen Beobachtungen und aktuellen Trends hervor:

z.B. die berühmte Liquiditätspräferenz (Menschen lassen es sich etwas kosten „flüssig“ zu sein, also Optionen zu haben), oder die Schnäppchenstrategie (das Angebot bestimmter Waren wird als begrenzt dargestellt, damit die Leute Torschlusspanik bekommen und kaufen- wie bei QVC- hier wird also die Option, etwas kaufen zu können, wann man will, bewusst relativiert, um die Menschen vom vernünftigen Optionsdenken zum irrationalen Kaufverhalten zu verführen. )

Genauso funktioniert die angekündigte Mehrwertsteuererhöhung: sie verführt die Menschen zu vorgezogenen Käufen- bei denen es gerade nicht um aktuelle Bedürfnisse und ihre Befriedigung geht, sondern um Hamsterkäufe, um spätere Konsum- Optionen aufrecht zu erhalten.

Ein anderes Beispiel ist die neue Strategie von Tschibo, das Warenangebot strategisch zu verknappen, um Gelegenheitskäufe zu provozieren (wieder handelt es sich nicht um aktuelle Konsum- Bedürfnisse, sondern Optionen)

Weitere Beispiele für die alltäglichen Wirkung der Optionslogik: Tendenz zu kleinen Einkäufen, (halbe Brote, sogar Scheibenweise, kleine Verpackungen usw.) die Tendenz dabei ist, sich durch den Kauf nicht festlegen, nicht zu viel haben zu wollen, sondern offen zu lassen, welche Bedürfnisse und entsprechende Konsumwünsche man am nächsten Tag, zu einer anderen Zeit haben wird.

Die Beispiele zeigen die Macht des Potentialis, der Option, der Möglichkeitsform (zumindest ab einer bestimmten Höhe des allgemeinen Reichtums) . Sie betonen die Vorstellung, die Phantasie, die Wahlfreiheit, die Offenheit gegenüber der Festlegung in der konkreten Wahlhandlung. Im psycho-ökonomischen Repertoir der Menschen scheint der Potentialis („ich könnte...“) den Primat sowohl gegenüber dem Realis („ich lege mich fest...“) als auch gegenüber dem Irrealis („ich kann nicht...“) darzustellen. Der Potentialis ist nicht weniger als seine Realisierung, sondern mehr, er repräsentiert die eigentliche menschliche Stärke, ihre power, ihre Lebensenergie, ihr wahres „Vermögen“, während der realis, die konkrete Wahl, eher festlegt, einschränkt, belastet, enttäuscht... Seine Kraft basiert auf der Vielfalt und Freiheit: "ich könnte/ kann jederzeit, wenn ich will ". Erich Fromms „Existenzweise des Seins“, die er 1976 gegen die des Habens setzte, wirkt heute schon fast steif, pastoral, religiös, fundamentalistisch. Er charakterisiert sie als „Wille zu geben, zu teilen und zu opfern“- also eine beinahe heroische Haltung in Zeiten der Knappheit. Dieses Heldentum könnte sich bei wachsendem gesellschaftlichen Reichtum erübrigen, wenn die Gesellschaft mit der potentiellen Überwindung der Knappheit auch die Geldlogik aufgeben würde, die den Reichtum zwar schuf, aber diesen nicht mehr menschenfreundlich verwalten kann.

Die Alternative stellt sich bei wachsendem gesellschaftlichen Reichtum nicht mehr als: Haben oder Sein, sondern eher als Haben oder Können: Die Last oder wenigstens die Ambivalenz des Habens steht gegen das Glück des Könnens (der Option). Der zukünftige Zustand wäre also nicht die überfressene Langeweile des Schlaraffenlandes, in dem sich die Menschen auf passives Besitzen und Konsumieren beschränken, sondern das lebendige Paradies der erfüllbaren Träume, aktiven Möglichkeiten und selbst gewählten Freiheiten.

Uli

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